Das Motto
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Was für ein Satz. Frei von juristischer Verklausulierung, von taktierendem Abwägen, ohne Einschränkung und Hintertür – geradezu das Gegenteil des Duktus politischer Äußerungen heute. Voller Absolutheit und Pathos könnte er auch von der Theaterbühne stammen. Seit 75 Jahren steht dieser Satz an erster Stelle des deutschen Grundgesetzes und setzt damit einen Maßstab für das politische Schaffen wie das gesellschaftliche Leben hierzulande.
1949, aus der Erfahrung der Greuel des Nazi-Regimes entstanden, wurde »Die Würde des Menschen ist unantastbar« als erster Artikel des Grundgesetzes der jungen Demokratie der Bundesrepublik in die Wiege gelegt. Fast wie zu einem Kind sagt er jedem staatlichen Organ, jeder*m Amtsinhaber*in, aber auch jeder Privatperson unmissverständlich: Finger weg von der Menschenwürde! Er ist Auftakt für die unveräußerlichen und unverzichtbaren Menschenrechte wie Freiheit, Gleichheit, Persönlichkeitsrechte und auch das Asylrecht in den folgenden Artikeln. Ohne diesen Gedanken wäre das Land, in dem wir leben, ein anderes. Unter diesem Leitsatz haben wir es geschafft, ein Dreivierteljahrhundert eine stabile Demokratie zu leben. Darauf dürfen wir stolz sein, dieses Jubiläum dürfen wir feiern.
Gleichzeitig legt dieser kompromisslose Satz den Finger überall dort in die Wunde, wo auch hierzulande Menschen diskriminiert, benachteiligt und ungerecht behandelt werden: Ihre Würde wird angetastet. Sich in Anbetracht dessen auf Artikel 1 des Grundgesetzes auszuruhen und den Widerspruch zu ignorieren, macht die unantastbare Menschenwürde zu einer heuchlerisch leeren Worthülse. Ein Gesetz ist nur Papier, solange es nicht gelebt wird. Dafür reicht es nicht, »Die Würde des Menschen ist unantastbar« ritualisiert zu wiederholen. Der Satz ist uns so geläufig, scheint uns so selbstverständlich – aber die Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen ist alles andere als selbstverständlich.
Unsere Demokratie ist leider nicht unantastbar. Mit Schrecken sehen wir, wie rechtsextreme Organisationen seit Jahren mehr und mehr Zulauf bekommen, wie in unseren Parlamenten mehr und mehr Menschen sitzen, die anderen die Freiheit, Gleichheit und Würde absprechen, wie rechte Netzwerke in sozialen Medien, Talkshows und auf politischen Podien täglich ihre antidemokratischen und menschenfeindlichen Ideen verbreiten. »Wehret den Anfängen«, ist seit Jahren zu hören. Inzwischen sind die Anfänge längst geschehen.
Wir wollen dem etwas entgegensetzen. Und wir sind nicht allein. Im Januar 2024 standen wir zusammen mit 25.000 Menschen auf dem Jahnplatz, um diesen Satz zu verteidigen. In diesem Moment waren wir stolz, Bielefelder*innen zu sein. Es lohnt sich, sich das breite zivilgesellschaftliche Engagement in dieser Stadt wie im ganzen Land vor Augen zu halten: wie viele Institutionen und Initiativen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, Aktionen und Bündnisse, wie viele engagierte Menschen sich diesen Satz tatsächlich zum Maßstab gemacht haben. Wir sehen die Bühnen und Orchester als Teil dieser Strukturen, die eine Demokratie wehrhaft machen. Es geht uns darum, die unantastbare Menschenwürde nicht zur Floskel werden zu lassen, sondern mit Leben und Bedeutung zu füllen. Mit diesem Satz, auf den wir uns scheinbar alle einigen können, wollen wir uns selbst befragen: Was bedeutet Menschenwürde im Alltag, in der Arbeit, in der Öffentlichkeit? Wann und wie sagt man wirkungsvoll: Finger weg? Es ist eine unserer Aufgaben als Stadttheater, kontinuierlich demokratische Werte und Menschlichkeit zu pflegen. Auch für uns ist dieser Satz ein Maßstab – vor, auf und hinter der Bühne. Dazu bekennen wir uns mit diesem Spielzeitmotto.